Besprechung "Gesänge der Stille" in
Christ in der Gegenwart Nr. 50/07 S. 419
durch Christian Schuler


Gregorianik als Meditation und Lebensform Vom Advent bis Mariä Lichtmeß Der Gregorianische Choral ist alles auf einmal: Keimzelle europäischer Musikgeschichte, Zeugnis abendländischen Geisteslebens und ein Schatz christlicher Spiritualität. Für den Komponisten Olivier Messiaen war er sogar die einzig wahre „liturgische" Musik, denn allein der Choral habe „gleichzeitig die Reinheit, die Freude und die Leichtigkeit, die nötig sind für den Flug der Seele zur Wahrheit hin". In der liturgischen Praxis der Kirche, die ihn hervorgebracht hat und in die er genuin gehört, stellt er heute ein Randphänomen dar, sogar innerhalb der Klöster. Tatsache ist aber auch, daß seit einiger Zeit viele Menschen innerhalb der Kirche und an ihren Rändern wieder Geschmack an dieser Musik finden. Laien und Ordensleute, Musiker und Betende, die nach einem schöpferischen Ausdruck für Stille und Kontemplation suchen, werden fündig bei einer Art des Gesangs, die anderthalb Jahrtausende alt ist und sich dennoch eine unerhörte Frische bewahrt hat.

Einer, der vom gewachsenen neuen Interesse an der Gregorianik ein Lied singen kann, ist der Niederaltaicher Benediktiner Gregor Baumhof, der seit Jahrzehnten den Choral als Mönch praktiziert und ihn zugleich in zahlreichen Kursen und Seminaren sowie als Dozent des Münchner Richard-Strauß-Konservatoriums lehrt und vermittelt. Baumhof ist nicht nur Experte und Spezialist, er lebt den Choral. Die Gregorianik bildet geradezu seine Lebensform.

Sein Buch stellt insofern einen seltenen Glücksfall dar, als es sowohl mit Sachkenntnis wie auch mit Begeisterung geschrieben ist - und eines das andere nicht behindert. Gregor Baumhof ist ein menschenfreundlicher Pädagoge, zugleich aber ist er ästhetisch unbestechlich: Was er lehrt, ist und bleibt ungeschmälert Gregorianischer Choral in seiner herben Schönheit und hat nichts, aber auch gar nichts von süßlich-frommem Gesäusel.

Das Geheimnis des Chorals liegt ja bei aller artifiziellen Konsequenz in ganz einfachen Dingen: im biblischen Text, in der einstimmigen Melodie, die die Worte bedenkt und bewegt (oder sich von ihnen bewegen läßt), und im Zusammenklang menschlicher Stimmen zu einer einzigen. Das sind die wesentlichen Elemente des Chorals zu allen Zeiten, sie machen seine Klarheit und seine Kraft aus.

„Wer liebt, singt", sagt Augustinus, ein Lieblingszitat des Autors, das ganz am Anfang steht. Danach führt Baumhof den Leser langsam und behutsam in sein Buch hinein, mit der Deutung eines Bildes, mit Hinweisen zur Einordnung des Gregorianischen Chorals in die Liturgie, mit faszinierenden Bemerkungen zu Zeit, Kosmos und Kalender - und mit einem Abschnitt zu den Glasfenster-Abbildungen, die das Buch auflockern und illustrieren. Der Leser schult seinen langen Atem auf diesem - gar nicht langatmigen - Weg, ehe er nach knapp dreißig Seiten in die Welt der Gesänge eintritt: „Der erste Advent. Die Sehnsucht nach Bezug und Licht. Der Introitus (Eingangsgesang) ‚Ad te levavi animam meam’, Zu Dir hin erhebe ich meine Seele.“

Die beiliegende CD mit den Klangbeispielen der Münchner Scholaren macht es möglich, daß sich der Leser noch vor jedem kognitiv-deutenden Zugang erst einmal der Musik überläßt. Dann folgt der übliche, die Kapitel gliedernde Dreischritt: Textdeutung - Musikalische Betrachtung - Zusammenfassung. Zur Abrundung jedes Abschnitts empfiehlt sich ein erneutes Hören der Musik. Nach dem Introitus verfährt man auf gleiche Weise mit der Psalm-Antiphon und dem Hymnus. Dann folgt der zweite Advent... Das Buch meditiert auf diese Weise den Beginn des Kirchenjahres, vom Advent über die Höhepunkte Weihnachten und Epiphanie bis zum Fest „Darstellung des Herrn" (Mariä Lichtmeß) am 2. Februar.

„Gesänge der Stille" ist ein einmaliges Übungsbuch, da es Hören und Singen gezielt nicht wie üblich zur Zerstreuung einsetzt, sondern für die persönliche Glaubens- und Meditationspraxis. Und wie nebenbei ist es eine Einführung in eine jahrhundertealte europäische Kunstform, deren Zauber und Schönheit ungebrochen ist.

Christian Schuler

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