Besprechung "Gesänge von Licht und Leben" in
Beiträge zur Gregorianik, Heft 50, Seite 100-104
durch Bernhard Pfeiffer


Kösel Verlag München
Gregor Baumhof, Gesänge von Licht und Leben. Mit dem gregorianischen Choral Tod und Auferstehung meditieren. Ein Übungsbuch mit CD. Kösel Verlag München 2010. 175 Seiten, CD mit rund 70 Minuten Laufzeit, ISBN 978-3-466-36834-1.

Das im Januar 2010 ausgelieferte Werk ist das zweite des Autors: Von den Gesängen der Weihnachtszeit handelte das Buch Gesänge der Stille, erschienen 2006 im selben Verlag (eine Besprechung findet sich in den BzG 43, Seite 133). Das jetzt vorliegende Werk ist wiederum ein tief spirituelles Buch im guten Wortsinn: Wer zum Frühlingsbeginn meint, nach etwas Esoterik greifen zu müssen (und sich vielleicht sogar mit den im Vorwort S. 7 skizzierten Frühlingsgefühlen "wohl" fühlt), wird enttäuscht: Man muss sich auf die Gesänge einlassen und sich "in lebensvolle Bewegung bringen" lassen, was nichts anderes bedeutet, als sich mit "Osterohren" und "Osteraugen" (S. 8) versehen auf den mühevollen Weg von Kreuz und Auferstehung zu begeben.
Für die einleitende Erläuterung der vorgestellten Gesangsformen (S. 9-15) gilt dasselbe, was der Autor über die Erläuterungen zur Psalmodie im Anhang (S. 162-170) sagt: Wer sich davon zunächst überfordert fühlt, kann sie übergehen und während des Übungswegs später gezielt auf sie zurückkommen.
Der Osterfestkreis des Kirchenjahres ist in der Tat ein kalendarisches Kunstwerk, eine gewachsene Komposition aus 7 Wochen vor und 7 Wochen nach dem Zentrum Ostersonntag. Dies wird auf den Seiten 19-21 sehr prägnant, verständlich und ansprechend ausgeführt. Vielleicht wäre es angebracht gewesen, zu solchen interessanten Fragen der Liturgiegeschichte im Literaturverzeichnis weiterführende Literatur anzugeben. Die Besprechung der einzelnen Gesänge wird in folgender, gleichbleibender Reihenfolge präsentiert: Nach dem Abdruck der restituierten Melodien aus dem GT (ohne Laon) steht eine gelungene deutsche Übersetzung der Texte; dann folgen zunächst Textdeutung, dann die Musikalische Betrachtung, bei längeren Stücken auch eine Zusammenfassung. Beim Introitus Laetare wird jedoch die Folge umgedreht - warum?

Baumhof gliedert den Übungsweg in der Fastenzeit mit Hilfe der Motive "Ohr" und "Auge", die in den Introiten des 1. und 3. Fastensonntags besungen werden; der Introitus vom 4. Fastensonntag bietet dann eine Zusammenschau der Motive, bis er den Leser am Palmsonntag mit dem Prozessionshymnus Gloria, laus et honor mitnimmt auf den "Weg zum König".
Entscheidend ist, wie auf S. 16 empfohlen, den Zugang zu einem Gesang stets über das Hören der beigelegten CD zu suchen und dann erst über den Verstand den Text in die Betrachtung einzubeziehen. Aus diesem Grund stehen auch hier die Höreindrücke des Rezensenten jeweils direkt bei den Stücken und nicht etwa in einer separaten CD-Besprechung.
Der besondere Reiz der beigefügten CD ist es, dass neben den versierten Münchener Scholaren auch eine Frauenschola aus drei ehemaligen Studentinnen des Autors extra für die Aufnahmen formiert wurde. Das erlaubt ein Abwechseln zwischen Männern und Frauen und in den großen Akklamationen der Karliturgie (Venite adoremus; Deo gratias) sogar die Verkörperung einer Gemeinde! Die gesamte CD ist von hohem Niveau: stimmlich, semiologisch-interpretatorisch, atemtechnisch. Der Klang der drei Frauenstimmen hat eine selten gehörte Natürlichkeit und Frische: sicher, aber ohne jede Routine. Wenn im Folgenden dennoch kleinste, auch kritische Anmerkungen zu den eingesungenen Stücken gemacht werden, so handelt es sich -bildlich gesprochen- um Millimeterabweichungen von einem "an sich" ohnehin kaum erreichbaren, und stets subjektiv empfundenen Ideal.

Der Introitus Invocabit erklingt schlichtweg makellos, gut und überzeugend. Seine zweite Silbe (invocábit) gerät auch bei der zweiten Wiederholung der Ant. nicht in den Sog der mehrtönigen Akzentneume. Die theologische Einbettung in die Taufkatechese für die Katechumenen ist überzeugend dargelegt. Der Hymnus Audi benigne conditor markiert das Tor zur Quadragesima, wurde er doch in der alten Liturgie nicht bereits ab Aschermittwoch angestimmt, sondern erst zur 1. Vesper des 1. Fastensonntags, dem eigentlichen caput quadragesimae. Baumhof wählt die Fassung des Liber Hymnarius von 1983. Es wirkt schlüssig, dass die Solistinnen die Hymnusstrophen nicht viergliedrig, sondern in zwei großen Halbbögen auffassen. Das ist vorbildlich in der 1. Strophe, gelingt aber von der Atemtechnik her gesehen nicht in allen Strophen gleich gut.

Das kurze Responsorium Ipse liberabit me ist abgedruckt nach dem neuen Antiphonale Monasticum von 2005 (p. 123); dabei folgt Baumhof zum Glück nicht der äußert diskutablen Wiedereinführung des Sibemolle, sondern belässt es beim Sinaturale, siehe dazu: BzG 40, S. 135 die Begründung von D. Saulnier.

Zum Introitus Oculi sei angemerkt, dass bei et miserere mei die Ausführung des Epiphonus und des kurrenten Pes völlig identisch geraten ist. Aber diese Beobachtung tangiert die schwierige Fragestellung, ob die sogen. Zusatztöne einer Liqueszenz nicht besser weggelassen werden 1). In der Textdeutung erwähnt Baumhof das musikalisch stark profilierte Wort semper: Seine Deutung: "Dieser Vers spricht von einem anderen, einem neuen Sehen." (S. 42) ist sicherlich nicht falsch. Doch mir fehlt hier ein Hinweis auf die verschiedenen frühchristlichen Psalmenexegesen (vox ad Christum, vox de Christo, vox Christi, vox ecclesiae 2)): Gerade dieser Vers ist m.E. nur zumutbar als vox Christi, also als Gebet aus dem Munde Jesu selbst: Seine (zunächst nicht unsere) Augen sind immer auf den Vater gerichtet. Anders gerät das hier Besungene zur geistlichen Überforderung!
Bei der Communio Lutum fecit, welche mit nur zwei Sätzen die Perikope Joh 9 meisterhaft und knapp auslegt, fällt ein kleiner Mangel im Abdruck der überarbeiteten Melodien auf: In allen liturgischen Büchern sind Pausenzeichen in viel zu großer Fülle und oft sinnwidrig gesetzt. Gerade der Zusammenhang et abii, et lavi, et vidi verträgt keine Pause. Hier hätten unbedingt zwei Strichlein getilgt werden müssen, um Laienscholen den richtig erhobenen Textsinn auch grafisch vor Augen zu stellen. Vielleicht fällt so etwas hervorragenden Gregorianikern wie Gregor Baumhof (auch jedoch Anton Stingl jun. mit seinen zahlreichen Restitutionen zum Download unter http://www.gregor-und-taube.de 3)) erst gar nicht mehr "ins Auge", weil sie es instinktiv richtig singen, sowohl als Solisten wie auch mit ihren Scholen.

Die Chorstrophe im Hymnus Gloria, laus et honor ist als Prozessionsgesang der gemischten Schola zugewiesen. Hier eine womöglich marginale Beobachtung, die es aber insbes. für Laienscholen festzuhalten gilt: Bis zur letzten Wiederholung des Rufs ist der virulente Wortakzent Gloria gut zu vernehmen und gerät trotz der Eintonneume niemals in den Sog des folgenden Wortes laus. In der Auslegung Baumhofs ist das Metrum (Distichon) knapp und zutreffend erläutert; es fehlt jedoch ein Hinweis, dass das quantitierende Metrum nie Betonungsgrundlage für den akzentuierenden Gesang war - hier stehen das Latein der Gregorianik und der Deutsche Vers auf der einen, die antike Kunstprosa alleine auf der anderen Seite. Auch für die Hymnen galt bereits, dass sie von den akzentuierenden Betonungen des Textes leben, während das Metrum beim Gesang in den Hintergrund tritt, was der aufmerksame Leser jedoch vielleicht selbst bemerken wird. Das berühmte GR Christus factus est steht an der Schwelle zum Triduum Sacrum, erklingt es doch nicht nur als Graduale am Palmsonntag, sondern auch im Stundengebet der Kartage (S. 78). Sein Solovers ist in der Ausführung durch zwei Herren anstatt durch einen Solisten zu hören. Eine solche Praxis ist liturgisch gesehen durchaus möglich; das chorische Atmen ist schwieriger als bei drei bis vier Stimmen, hier in der Aufnahme aber recht gut gelungen. Die fundierte musikalische Analyse gehört zum anspruchsvollsten, was das Buch zu bieten hat.

Mit der 5. Station treten wir ein in die Heiligen Drei Tage vom Gründonnerstag bis Ostersonntag. Als Gliederung dienen hier die Untertitel "Weg zur Erniedrigung", "Weg zur Erhöhung", "Weg zum Totenreich" und "Weg zum neuen Leben". Das Klagelied I (Track 10) singt der Autor selbst. Dabei setzt er Sinn- und Spannungsbögen selbstredend besser, als der abgedruckte Notentext es vorgibt. Während die Propriumsgesänge allesamt von Bernd Dirnberger im Sinne eines Graduale Duplex 4) sorgfältig grafisch überarbeitet wurden, also frei von Solesmenser Episemen sind, gilt dies leider nicht für die Abdrucke aus dem Buch Officium et Missa ultimi tridui ..., Paris-Tournai 1923. Jede nicht getilgte, sinnentstellende Minima-Pause ist auch hier ein Stolperstein zu viel fürs Auge (z.B. wird im Schlussvers bereits das erste Jerusalem mit einer Pause abgeschnitten). Und die Solistin des zweiten Klagelieds (Track 14) setzt ihre Spannungsbögen dann auch enger (wegen dieser Pausen?), als Baumhof selbst sie in Track 10 auffasst und singt. Im Responsorium Tristis est anima mea ist der falsche Custos aus der Vorlage (Seite 26* des Vigiliars III) stehen geblieben. An dieser Stelle der Hinweis: Alle großen Responsorien aus dem Codex Hartker werden von Dominique Crochu inzwischen in restituierter Form zum Download angeboten (http://www.gregofacsimil.net). Die Quellenlage der diastematischen Hss. ist breit genug, um im Einzelfall die Versionen des Vigiliar III aus dem Jahre 1974 zu übertreffen. Im hier fraglichen Stück ist denn bei Crochu die Repetenda mit Hartker *Nunc videbitis und der authentische Vers Vigilate et orate anstelle von Ecce appropinquat hora.

Mit den drei Antiphonen zur Fußwaschung (Tracks 13-15) betreten wir ein schwieriges Terrain. Bereits das GT kennt jeweils zwei Fassungen: GT 164 ff. und im Anhang GT 884 ff. Keine der Melodien entspricht exakt den Neumen im Codex Hartker 185. Die Restitutionsarbeit dazu wurde, so weit ich es sehe, leider noch nicht geleistet bzw. publiziert 5). Insoweit muss man mit Textinterpretationen etwas vorsichtig sein.
Im Responsorium Velum templi zeigt sich, dass "U"-Klang, Höhe und Legato zu vereinen, eine stimmtechnische Herausforderung bzw. Schwierigkeit ist: regnum tuum am Schluss hat zu wenig Weite, was aber, wie einleitend gesagt, "Millimeter" sind.
Die Gesänge des Karfreitags sind in unkorrigierter Form dem GT entnommen. Es ist bekannt, dass die Quellenlage so schwierig ist, dass eine Restitution nicht in jedem Fall möglich und hilfreich ist. Dennoch macht der Arbeitskreis Melodierestitution der AISCGre ab BzG 48 (es hat gedauert!) dazu gelungene Versuche. Es wäre angebracht gewesen, wenn der Autor diese Problematik ganz kurz in einer Fußnote angedeutet hätte. Denn auch der Laie merkt auf seinem Übungsweg sehr bald, dass die zweite Neume bei Crucem tuam (S. 110) eigentlich (als Pes) zwei Töne erfordert und wundert sich vermutlich darüber.
Abdruck und Gesang des ungekürzten lateinischen Exsultet sind ein mutiges Vorhaben, sie liegen ganz in der Linie einer Auffassung Baumhofs, dass "Verstehen" im heutigen Sinn oft Gefahr läuft, das Latein zu verbannen und damit den Wurzelgrund unserer Spiritualität zu verlieren (S. 83 u. S. 144). Die deutsche Neuübersetzung von Norbert Lohfink (die hoffentlich einmal Einzug nimmt in eine Neuauflage des Deutschen Messbuchs!) entschädigt den Leser in jeder Hinsicht für die Mühe der Beschäftigung mit einem so langen Text.
Auf S. 145 versucht der Autor den Prolog des Exsultet modal einzuordnen als "phrygischen", also 3. Modus. Bei liturgischen Rezitativen sehe ich das äußerst problematisch, da von einer Entstehung weit vor der Zeit der Systematisierung im Oktoechos auszugehen ist. Das Exsultet ist nichts anderes als ein Rezitativ im uralten RE-Modus. Für die Teile ab dem Präfationsdialog mag dies einleuchtend sein, es gilt jedoch genauso für die Einleitung, denn der RE-Modus geht durchaus über B bis zum tiefen LA hinunter.6)

Das Canticum Sicut cervus wurde in der erneuerten Osternachtliturgie zum bloßen Antwortgesang nach der VII. Lesung herangezogen. Wohltuend anders sind hier Frater Gregors Ausführungen (S. 151): Nur seine Einordnung als Prozessionsgesang zum Taufbecken erhellt Text und Funktion des Gesangs, wie es in der alten Liturgie deutlich war. Am Schluss von Buch und CD steht das Osterhalleluja mit seinem Vers Confitemini: Nach der dreimaligen melodischen Steigerung landet man bei einem Finalton auf absolut B! Die Solistin bringt den Vers ungemein locker und strahlend in dieser schwindelerregenden Höhe.

Das Buch ist, wie bereits sein Vorgänger über die weihnachtlichen Gesänge, mit ansprechenden Bildern (Codex Egbert und Anastasis-Ikone) hochwertig ausgestattet und sehr übersichtlich gegliedert. Alle oben erwähnten, im Einzelfall kritischen Anmerkungen mit Hinblick auf ein vom Autor hier nicht ausdrücklich intendiertes wissenschaftliches Niveau, mindern nicht im Geringsten dieses Urteil: Wer das Werk durchnimmt, wird geistlich reich beschenkt; Gregorianik hat heute wieder die Chance, von spirituell geschulten Laien für die Liturgie eingefordert zu werden. Und nicht zuletzt bekommt die Leserin / der Leser Lust auf ein Mehr-Singen und Mitsingen: Es muss nicht gleich "das" Choralamt sein, vielleicht aber das Einbringen sorgfältig ausgewählter Gesänge seitens einer Projektschola in die liturgische Feier.

Bernhard Pfeiffer



1) Dazu: Godehard Joppich, Ritenuto, Ritardando und Accelerando, in: Psallite sapienter. FS zum 80. Geburtstag von G. Bères, S. 267.
2) Vgl. dazu: F.K. Praßl, Gregorianische Gesänge als Zeugnisse für patristisches Schriftverständnis, in: BzG 45, S. 44. Bei Baumhof ist die "Vox de Christo" immerhin auf S. 31 tangiert: Die Zusage des Invocabit me gilt "dem Auferstandenen selbst".
3) Wobei gerade in dieser Communio Lutum fecit A. Stingl jun. die Pausen getilgt hat, was zeigt, dass ihm die Problematik zunehmend bewusst wird!
4) Vgl. dazu jetzt die Downloads auf: http://www.gregorianik.org/gradualeduplex.htm
5) Hierzu wäre insb. St. Yrieix (F-Pn lat 903) heranzuziehen.
6) Vgl. dazu: Alberto Turco, Il Canto Gregoriano II. Toni e modi, Roma 1987, p.83.

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